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Es freut mich natürlich sehr, wenn meine Werke reichlich gelesen werden und unterhalten oder zum Nachdenken anregen. Natürlich sind auch immer wieder gut gemeinte Kritiken erwünscht!

Donnerstag, 31. Oktober 2013

Graue Zeilen

Eine Kurzgeschichte
Kategorie: Tragik, Krieg
Sommer, 2013


Es war tiefste Nacht und die Sterne übersäten den Himmel, als im Schein eines Vollmondes ein Kurier, gehüllt in einen zerschlissenen Mantel, an die Tür der Kaserne klopfte. So fand er sich wenig später in der hellen Wärme eines kleinen Kamins wieder, umschwärmt von einer Horde ungeduldiger Soldaten, die Herzen schwer von Sehnsucht.
„Welch Botschaft bringt du von Zuhaus?“, riefen sie durcheinander. „Rück Brief und Päckchen für uns raus!“
Da teilten die halb-erfrorenen Hände des Kuriers für jeden tapferen Mann etwas aus. Die Gesichter strahlten, das Feuer spiegelte sich in Freudentränen, die langsam über Wangen rannen. Gedanken schwirrten in den Köpfen und ein jeder verweilte einen Moment in den geschmückten Häusern daheim zum Weihnachtsfeste mit Frau und Kind.
Doch da zerbarst ein Schrei die Stimmung und Blicke flogen durch den Raum. Man ahnte das Schlimmste und die Stille drückte ihre Herzen schwer beim Anblick eines entsetzten Kameraden. Es nahm der Älteste ihn zur Seite, bedeutete die Anderen zu gehen. So saßen sie zu dritt – der Kurier, der Älteste und der junge Soldat, dessen Tränen die Flammen des Kamins nicht spiegeln wollten. Denn er erhielt einen Brief seiner hübschen Frau mit Zeilen, die graue Botschaft verrieten:

„O, Liebster, so eilt herbei in der Stunde der Not,
mein Herz ist schwach,
es scheint, als erwarte mich der Tod.

Die Sehnsucht macht die Brust mir schwer,
ich vermisse Euch
und begehre Euch so sehr.

Doch weiß ich um Eure Pflicht Bescheid.
Mein Herz bleibt schwach,
aber folgen müsst Ihr geschworenem Eid.

Wann und wo werden wir uns sehen?
Liebend und wieder vereint,
wo wir in einem Paradies dann gehen.“

So stand es geschrieben und die Männer begriffen, dass der Winter wieder seine Opfer verlangte. Denn es war kalt in diesen Zeiten, wo der Krieg das Land verwüstet hatte. Drum war es schmerzlich zu sehen, wie sich der Tod an einem jungen Mädel laben wollte.
Wieder weilte die Stille in diesem Raum, wo Dunkelheit selbst das Glühen im Heizofen verschluckte. Draußen sammelten sich Wolken, die der Sternen Schein entschlafen ließen, um Schneeflocken gen Erde zu treiben, die in dieser kalten Welt sich häufen wollten. Als Moment um Moment verstrich und eine weiße Schicht das Land eindeckte, entschied der Älteste sich in die Schlafkammer zurückzuziehen, dem Jüngeren Zeit zu geben, die grausame Botschaft zu ertragen. Der Bote schlief bald vor den Flammen ein und seine Träume schickten ihn an einen besseren Ort. Doch Träume sollten den jungen Soldaten nicht erreichen, denn seine Seele hämmerte an die Tür der Kaserne, sich der Seelenverwandten sehnend.
„Bleib ich an diesem Ort“, murmelte der Jüngling, „bist du mir immer fort. Mein Herz könnt' solch Qual nie vergessen und würde meine Seele zerfressen.“ Da stand er auf, die Flammen loderten ein letztes Mal auf und färbten das Abbild der Entschlossenheit in seinem Gesicht. Um sein Schicksal war er sich bewusst, denn Fahnenflucht zog die letzte aller Strafen mit sich. „Ich bezahle jeden Preis für dies gefährliche Streben, denn ohne dich, werd' ich nicht weiterleben.“
Ein Mantel, ein Gewehr sowie einen Beutel mit harten Brotkrusten und Dörrobst - er war bereit. Er stahl das Pferd, das ihm schon seit seinem Beitritt im Dienst vertraut war, denn welcher Gott hätte ihn strafen sollen? Im rasanten Galopp kämpft sich der Recke durch das eisige Gewand des Winters, durch die kühlen Falten eines weißen Tuches, geflickt aus Flocken, gewoben von kühlen Fingern.
Auf einem Hügel hielt er an, das Pferd wendend, um zu der Kaserne zurückzuschauen. „Ihr Kameraden, auf Wiedersehen! Mögen eure Wege weitergehen! In guter Erinnerung möcht' ich euch sein, denn sonst bleib ich in meinem Kampf allein.“ Eine Träne rann über das kalte Gesicht, das sich an den Glutschein des Ofens nicht erinnern konnte. Die Freunde ließ er im Stich, um sein eigenes Herz zu retten.
So ritt er durch ein trostloses Land, geführt von seinen Sinnen, seinem Verstand und seiner Seele. So ritt er durch zerstörte Dörfer, geführt von verkohlten Äckern, eingestürzten Häusern und leeren Menschenhüllen. Er zog einen Eiskristall aus der Mähne seines Hengstes. Diesen betrachtend, wollte er die Welt um sich vergessen, die Schuld zerfressen, da auch durch seine Hand, der Erde unschuldiger Boden vom roten Elixier des Lebens trinken musste. Der gefrorene Klumpen schmolz nicht in der Kälte seiner Hand.
An einem Fluss hielt der junge Soldat. Durch den glitzernden Eisnebel, der aus den Nüstern des Reittieres hervorstieß, sah er das Gewässer erstarrt in einem frostigen Schlaf. So trieb er sein Ross an und ritt entlang des Ufers eine Brücke suchend. Es schlug sein sorgenvolles Herz nur wenige Male, bis ein Tosen lauter wurde, das einem Wasserfall glich. An einer Stelle war der Fluss aufgebrochen und das kalte Nass stürmte wie ausgemergelte Hunde, die sich um einen Knochen rangen.
Tatsächlich schien in seiner schlimmen Lage dem jungen Soldaten wohl doch eine Spur des Glückes zu ereilen, denn im Schneegestöber stand eine Hütte. Seine Ahnung bestätigte sich, als er an die Tür klopfte und ein Mann öffnete, der sich als Fährmann erwies.
„Was ist euer Begehr?“, fragte dieser, den Fremden und sein Gewehr unter gerunzelten Brauen musternd.
„Ich bitte Euch sehr: Helft mir, dass andere Ufer zu erreichen! Könnt Ihr Euer Gemüt dazu erweichen?“
Eine ablehnende Geste und die letzte Hoffnung wollte die Tür wieder schließen. Da stieß der Soldat mutig den Fuß zwischen Tür und Rahmen und reichte dem Schiffer ein Pergament. Dessen Augen flogen über die Zeilen und verengten sich zu schmalen Schlitzen, als wollten sie den Worten jeglichen Zugang versperren. Es rührte sich sein Gemüt und schon bald standen beide und bemühten sich mit einem Boot den Fluss zu passieren. Der Fährmann kannte geeignete Stellen, die es selbst bei diesem Wetter gewährleisteten, möglichst sicher zu fahren.
Gischt wirbelte auf, als das kleine Schiff den Fluss teilte und es sich anfühlte, als führte man eine Kutsche auf einem holprigen Steinweg entlang. Der wässrige Schleier benetzte das Gesicht des jungen Soldaten und ihm war, als gefror er auf seiner Haut, wie ein eisiger Kuss, zärtlich und stechend zugleich. Er schaute zurück zum Fährhaus, wo sein Hengst unter einem Vordach stand. Nun musste er auf seinen Füßen zum Dorf gelangen und hoffte auf die Kraft, die ihm seine Entschlossenheit schenken musste.
Die Fähre legte an einem Holzsteg an. Auf festem Boden angekommen, klopfte der Fährmann den Soldaten auf die Schulter und erzählte von „harten Zeiten“ und „Nächstenliebe“, doch die Worte glitten mit dem Wind wie die Schneeflocken am Ohr seines Gegenüber vorbei. Denn dieser wollte einfach weiter, weshalb er dem Fährmann vielleicht auch nur halb so herzlich dankte, wie dieser es verdiente.
Mittlerweile lag der Schnee so hoch, dass sich die Fußstapfen im Schnee abzeichneten. Mantel und Gürtel zog er enger; letzteres um das hohle Gefühl im Bauch zu bekämpfen, das weniger vom Hunger als von Unwissenheit genährter Sorge kam. Er war dabei mit schleppenden Schritten einen Hügel zu erklimmen, der ihm die Sicht auf seine Heimat ermöglichen würde. Seit dem Kriegsbeginn war er fort. Die Blumen, die im Frühjahr leicht zu Frühlingslüften nickten, schienen ihm jetzt wie ein längst verblichener Traum. Den Leuten im Dorf war es gut ergangen, sie hatten die Ostertage ausgiebig gefeiert, bis die grausame Nachricht sie ereilte und ihr Lachen letztendlich nur eine illusorische Erinnerung blieb.
Seine Gedanken fielen zusammen, als er ein fernes Krachen, dann weiteres Knacken und Knarzen hörte. Sein Mantel wirbelte den Schnee auf, als er sich ruckartig umdrehte. Schreie drangen an sein Ohr, durchbohrten seinen Kopf, vereint mit dem fürchterlichen Anblick, der sich ihm bot.
Wie gewaltige Pranken schien die Strömung den Kahn gegen den gefrorenen Abschnitt des Flusses zu stoßen, wo die eisigen Zähne sich in das Holz gebissen hatten und es brachen, wie einen Zweig in einem Herbststurm. Die letzten Schreie des Schiffers verhallten über die verschneite offene Ebene. Erst in diesem Moment merkte der Zeuge dieses Unglücks, das er auf die Knie gefallen war. Er vergrub sein Gesicht in seine Hände und wartete, wartete, bis die Geräusche vom brechendem Gehölz endeten, wartete, bis die Schreie in seinem Kopf verklungen waren.
Als er aufschaute, verschlang das Ungestüm das letzte Stück des Kahns. Einsam flatterte ein Segel, dass den Fluten entkommen konnte und nun in die Ferne dahinflog. Doch er sah es nicht mehr, denn er erreichte den Gipfel des Hügels. Wie er das Gefühlswirrnis bändigen konnte, war ihm unklar. Vielleicht musste es sein, denn Schuldgefühle würden den letzten Teil seiner Seele einfrieren.
Auch wenn er den Pfad zum Dorfe nicht ausmachen konnte, so wusste der junge Mann sofort, in welche er Richtung er blicken musste, um die fernen Häuser zu sehen.
Der Schneefall ließ nicht nach. Dem Winter gefiel es sich der Welt wieder einmal anzunehmen, als ob er es nie müde werden würde. Er schickte seine Winde, um seinen weißen Regen über alle Grenzen des Kontinentes zu schicken, die Botschaft seiner Wiederkehr vermittelnd.
Schritt für Schritt kämpfte sich der Mann weiter. Die Kälte zerrte an ihm, es fror ihm am gesamten Leib, seine Wangen waren hohl, sein Gang war gekrümmt, als hätte er den Winter seines Lebens schon erreicht. Manchmal schaute er nach unten, um sich zu vergewissern, dass er noch ging, denn das Dorf wollte nicht näher kommen und seine tauben Füße fühlten die Schritte nicht mehr. Im Innern war er leer. Da war nichts. Er wünschte sich irgendetwas, sogar Schmerz, nur um dieser endlosen Monotonie zu entkommen.
Wie ein Sack Mehl fiel er nach hinten. Der Schnee kuschelte sich an seinen starren Körper, liebkoste ihn, wollte ihn trösten. Es kam so plötzlich, jegliche Kraft wich aus seinem Leib, er war am Ende. Den Weg würde er nie schaffen. Was hatte er sich nur gedacht? Er war am Ende.
Doch was war das? Es fegten Winde über die Ebene, doch sie waren nicht mehr von Schnee genährt. Sie trieben die Wolken in die Ferne und die aufgehende Sonne sendete ihre morgenroten Strahlen in die kalte Welt und der aufwirbelnde Schnee glitzerte wie Strass, trügerisch und trotzdem schön.
Wie aus dem nichts schoss etwas Weißes an dem Liegenden vorbei. Von den Strahlen geblendet, konnte er nicht ausmachen, was es war. Ein paar Herzschläge später flog es wieder auf der anderen Seite entgegengesetzter Richtung, nur um wenig später wieder aufzutauchen. Welches Todesgespenst wollte sich da seiner bemannen? Der Boden bebte leicht, als die Gestalt ihm näher kam. Unwillkürlich suchten seine Hände das Gewehr, wie ein fast mechanischer Vorgang, der bei Gefahr ausgelöst wurde. Er wollte sich aufrichten, jedoch war ihm, als wiegte sein Mantel schwerer als alle Lasten, die er je tragen musste. Das Wesen hielt vor ihm an und schnaubte.
War es denn möglich? Ein zweites Schnauben ertönte, aber keins von der Sorte, vor der man sich fürchten müsste, sondern ein nahezu aufrichtiges, dass dem Soldaten nur allzu bekannt vorkam. Er zog sich am Steigbügel langsam und mühevoll auf den Sattel herauf. Dann ließ er sich nach vorn fallen, fest den Hals umschlingend. Es war ihm unerklärlich, wie das Tier den Fluss überqueren konnte, denn das Eis schien dünn und die Strömung nicht zu bändigen. Seine blauen Lippen formten ein Lächeln und aus dem müden Auge quälte sich eine Träne, als er das treue Pferd lobte.
Im Sprint ging es weiter. Die Winde bissen ihm ins Gesicht, weshalb er sein gesamtes Gesicht in seiner Kapuze versteckte und nur noch dem pfeifenden Geräusch und dem Knirschen des Schnees lauschte.
Er wusste nicht wie, er wusste nicht wie lange, doch der Hengst legte den ganzen Weg bis zum Dorf zurück. Erst als der Ritt endete, schaute er aus seiner schützenden Hülle hervor.
Die Straßen des Dorfplatzes waren leer. Die Menschen trauten sich nicht heraus, anders als an den warmen Sommertagen, wo der allgemeine Marktrubel sich zur frühen Morgenstunde einfand. Trotzdem wärmte der Anblick der Heimat das Gemüt des Heimgekehrten und wenn auch der Körper kalt war, so schmolz die Eisschicht, um sein armes Herz und er fasste neuen Mut. Der letzte Weg war ihm bekannt, als hätte er diesen Ort nicht einen Tag lang verlassen. Er verscheuchte alle Schreckensbilder, die seinen Kopf bewohnen wollten.
Als sein kleines, bescheidenes Haus in Sicht kam, brachte er das Pferd zum Stehen und sprang etwas zu eilig ab, stolperte kurz, ehe er zu einem Lauf ansetzte, als flöhe die Zeit vor ihm und er müsse sie einfangen. Ungeduldig drückte er, bei der Haustür angelangt, die Klinke – verschlossen. Ohne zu zögern hob er einen kleinen Topf mit verwelkten und frostüberzogenen Blumen, fand den rostigen Schlüssel und der Eintritt ins Haus war ihm ermöglicht. Drinnen schob er die Tür wieder zu und sperrte die vereiste Außenwelt ab. Langsam, fast schleichend, als erwartete er das Schlimmste, begab er sich in das Schlafzimmer.
Auf einer harten Matratze gebettet, lag sie da, die dicken Daunendecken bis über die Schultern hochgezogen und das Gesicht erstarrt, in dem dämmrigen Licht, das durch das staubige Fenster fiel. Er konnte sich nicht zurückhalten und rannte nahezu ungehemmt auf sie zu. Tränen rannen über sein Gesicht, als er ihr schönes Antlitz betrachtete. Obwohl ihr Gesicht durch Sorge und die Zeiten des Krieges gezeichnet waren, verzauberte es immernoch den Soldaten, wie an dem schönen Tag im Mai, an dem sie sich kennenlernten. Trotz der Krankheit, die sie befiel, hatte sie eine gesunde Gesichtsfarbe. Ihr Atem ging langsam und ihr Brustkorb hob und senkte sich unter den wärmenden Federn. Er wollte sie aus ihrem schönen Schlaf nicht wecken, setzte sich neben sie in einen Sessel und betrachtete sie. Das wenige Sonnenlicht verlor sich in seinen Tränen und sie schimmerten, als sie den Weg über seine Wangen einschlugen. Die Umstände missachtend, lächelte er und spürte eine merkwürdige Zufriedenheit, die ihn fremd und beinahe unangenehm war. Er saß so eine oder viele Stunden da, als gäbe es keine Zeit mehr, als würde dieser Moment ewig sein, als wäre ihre Schönheit nie vergänglich. Er war so gebannt, dass er es zuerst gar nicht merkte, als sie sich regte und die Augen öffnete. Sein Herz machte einen Sprung, als sich ihre Blicke trafen. Sie schien verunsichert, ihr Lächeln zuckte, den Liebsten erkennend, doch sich ob Traum oder Realität nicht bewusst. Er sei nun da, meinte er, sie bräuchte sich nicht mehr zu fürchten.
Die junge Frau warf die Decken zur Seite, die plump zu Boden fielen und auf ihrem Nachthemd leuchteten gestickte Rosen. Mit einem kräftigen Sprung warf sie sich an ihn und lachte aus vollem Halse, als hätte sie all das verbliebene Glück dieser Zeit gekostet. Doch der junge Mann war steif, die Augen weit geöffnet, den Mund offen, wie er erfroren wäre in der Nacht zuvor. Sie tänzelte um ihn herum, nahm seine kalten Hände und kuschelte sich immer wieder an ihn. Da begriff er.
Die grauen Zeilen, die er erhielt, waren Worte eines Dichters, wie ein Poet die leidenschaftliche Sehnsucht nach der Geliebten beschreibt. Sehnsucht, die sich wie der Tod anfühlte. Ein Missverständnis.
Er hielt sie fest, gröber als beabsichtigt. Sie verharrte. Er dachte an seine Kameraden. Sie schaute ihn an. Er dachte an den Fährmann. Sie schaute ihn an mit ihren lebendigen Augen. Er dachte an sein Vergehen. Sie würde leben. Er müsste mit dem Tode sühnen. Doch sie würde leben.
Der junge Soldat setzte zu Worten an, unterbrochen von der Tür im Flur, die lautstark geöffnet wurde. Er kniff die Augen zusammen, als hämmernde Schritte näherkamen.
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Nachwort:
Nach dem Schreiben dieser Kurzgeschichte habe ich einen deutlichen Unterschied zu meinen anderen Geschichten feststellen können. Es ist hier nicht nur der bewusste poetische Schreibstil, sondern auch, die Tatsache, dass mein allgemeiner Stil reifer geworden zu sein scheint, was ich aus den Reaktionen derer entnehme, die diese Geschichte zuerst gelesen haben.
Inspirieren ließ ich mich von  Franz Kafkas Erzählung "Ein Landarzt".
- Der Traumpilger (31.10.2013)

Sonntag, 13. Oktober 2013

Der hölzerne Schlossherr

Eine Kurzgeschichte
Kategorie: Umwelt, Natur, (Sage)
August, 2012


Grünes Licht umhüllte mich. Die Sonne versuchte sich durch das Blätterdach zu kämpfen, doch ihre Anwesenheit machte sich nur durch vereinzelte Strahlen bemerkbar, die zwischen den Blättern wie funkelnde Lichtkristalle wirkten. Der Wald spendete mir eine angenehme Kühle, als ich zwischen den Bäumen wanderte und dem Waldgeflüster lauschte. Wenige Leute hören das Flüstern heutzutage. Sie mögen vielleicht noch den Gesang der Vögel bemerken, den sie aber schnell wieder als einen monotonen Einklang empfinden und sich lieber einem Tratsch mit dem Weggefährten widmen. Doch wenn ich durch den Wald streife, höre ich die vielen Stimmen der Vögel, die aufgeregt durcheinander zwitschern, als wolle jeder dem anderen etwas erzählen, bis sie alle verstummen, wenn ein stolzer Adler vorbei fliegt und sie seine Pracht ehren. Aber nicht nur der stolze Adler war einer der beeindruckenden Waldbewohner. Ab und zu versteckte ich mich hinter einem Gebüsch, um einen roten Fuchs zu beobachten. Was für ein kluger Jäger er doch ist, denn wenn er mich mal erblickt hatte, war er auf der Hut, ließ mich selten aus den Augen, als wollte ich ihm seine Jagdbeute streitig machen. Es waren aber nicht nur die Tiere, die mich beeindruckten. Manchmal konnte ich, wenn der Wind sich etwas austobte, das ächzende Knarren der Äste hören, als würden sich die Bäume, wie alte Herren, über etwas beschweren. Dieser Gedanke löste dann ein Schmunzeln von meinen Lippen, weil ich realisierte, wie ähnlich dieser Ort uns Menschen ist.
Doch dann veränderten sich meine Züge. Ich spürte eine Traurigkeit in mir und ich erinnere mich, wie ich immer zu Boden blickte, wo das Laub im Winde leise spielte. Denn ich schämte mich für die Menschen. Sie verschmutzen den Wald, werfen ihre Abfälle durch die Gegend, als sei der Wald nur eine Müllhalde. Dann fällt mir immer ein, wie meine Mutter mein Zimmer mit einer Müllhalde vergleicht. Ja, so sind die Menschen wahrscheinlich. Ihr eigenes Haus halten sie sauber, weil sie sonst von dem Abfall umgeben wären. Doch der Wald ist ja nicht ihr Lebensraum.
Selbstverständlich gibt es da auch die andere Sorte von Menschen, die den Wald pflegen, ihn lieb gewinnen und sich sogar als Naturschützer einsetzen. Aber leider sind dies zu wenige Menschen und wenn ich ehrlich bin, setze ich mich auch nicht auf diese Weise für den Wald ein. Wenn ich dann daran denke, die leeren Verpackungen am Waldesrand sehe, trifft es mich wie ein Schlag und ich wünsche mir, dass ich mich mehr einsetzen würde. Aus den Augen aus dem Sinn, denn dieser schmerzhafte Vorwurf bleibt wie der Abfall im Wald liegen, wenn ich wieder nach Hause gehe oder mir töricht einrede, dass ein einzelner Junge nichts verbessern kann.
Auf meinem heutigen Spaziergang aber, sollte sich etwas an dieser Einstellung ändern. Ich verlange keineswegs, dass man mir glaubt, was ich da in der Granitz auf Rügen erlebt hatte. Denn der 'gesunde' Menschenverstand warnt ja vor solchem Spuk und sagenhaften Geschichten. Doch in meinem Gedächtnis bleibt dieses Ereignis als Wunder vom Schwarzen See haften.

Da war ich also nun in einem der schönsten Wälder von Rügen, der Granitz. Die Granitz befindet sich zwischen den Ostseebädern Binz und Sellin, wo es von Touristen nur so wimmelt. Nicht selten flüchtete ich hierher, um dem Trubel aus meinem Heimatort Binz zu entkommen. Auch sieht man ab und zu einige Wanderer, die die Wege entlang schlendern, nur um sich die Zeit zu vertreiben. Doch nur der, der wagt, sich von den Wegen zu entfernen, lernt die Schönheit und Geheimnisse des Waldes kennen. Aber diese rätselhaften Orte und ihre Erzählungen von mystischen Kreaturen sollen in dieser Erzählung keine Rolle spielen. Man muss sie selbst entdecken und schätzen lernen. Wer das gerne möchte, sollte sich beeilen, denn anscheinend ist Holz aus den Wäldern Rügens auch ein begehrter Rohstoff, wie verteilte Baumwüsten berichten.
Meine Schritte führten mich aber zu einem bestimmten Anlaufpunkt für viele Besucher des Waldes. Der Schwarze See ist neben dem Finnischen Krieger und der Kreuzeiche eine der beliebtesten Raststätten für so manchen Inselbesucher. Ich komme zu dieser Annahme, da man die Menge der Besucher an dem herumliegenden Müll immer gut zählen kann.
Ich nahm einen direkten Weg und mied die Pfade, die die Wegweiser vorschlugen, denn ich kannte sie und ich wollte lieber etwas mehr vom Wald entdecken. Ein Grinsen huschte über meine Lippen, als Erinnerungen in meinem Kopf erwachten. Oft verlief ich mich schon in diesem Wald, doch fand ich immer wieder einen Weg zurück. Letztendlich schien es so, als würde ich die Umgebung kennen wie meinen Schulweg. Daher wusste ich, dass ich mich dem See schon näherte. Die Buchen ließen nun eine Lücke in ihren Reihen und ich befand mich auf einer Lichtung. Ein kurzer Blick und ich sah den Hang, den ich hinunterlaufen musste um am See zu sein. Etwas ließ mich aber zögern.
Ein merkwürdiges Brummen erklang im Wald. Nicht etwa das Brummen einer Maschine, sondern ein angenehmes und warmes Brummen. Ich wagte mich nur wenige Schritte an den Hang, ehe meine Sicht bis zum Ufer des Sees reichte. Nichts zu sehen.
Worte! Auf einmal erkannte ich Sätze in der tiefen Melodie. Eine Melodie? Also war es ein Lied. Ich stütze mich an eine Buche und lauschte:

Erinnerung plagt mich seit jenem Tag,
ob ich je dies Grauen vergessen mag?
Im Schwarz versunken.
Im See ertrunken
mein Besitz, mein Heim, mein Leben ist.

Wo stolz am Ufer Buchen stehen,
wird man es wohl nie wieder sehen.
Ein Schloss versunken.
Im See ertrunken
mein Besitz, mein Heim, mein Leben ist.“

Die triste Melodie erlosch, doch das Brummen saß noch eine Weile in meinem Kopf, als erinnerten sich meine Ohren noch an dies eindrucksvolle Lied, das ihnen soeben geschenkt wurde. Neugier löste mich von dem Baum und trieb mich den Hang hinunter. Teilweise rutschte ich, weil ich nicht auf meine Schritte achtete. So kam ich unten an, mit Laub im Haar und Flecken auf der Kleidung. Rasch blickte ich mich um. Niemand war da. Wieso war da niemand?
Meine Augenbraue zog sich nach oben und ich konnte mir schlecht vorstellen, dass ich mir ein Lied komplett eingebildet haben soll.
„Hallo?“ Mein Ruf gellte durch den Wald, nur mein Echo antwortete und ein paar Vögel flogen erschrocken weg. Ich seufzte. Dass meine Fantasie manchmal merkwürdige Sachen ausmalte, war mir klar, aber dass sie gleich ein Lied mit Strophen komponieren konnte, war mir neu. Vielleicht hatte ich ja einen kleinen Dichter im Kopf. Ein Kichern folgte meiner eigenen Bemerkung und verdrängte das Gefühl, dass mein lauter Ansturm den Hügel hinunter vielleicht den Sänger verscheucht haben musste.
Ich ging an der alten Eiche vorbei und auf den See zu. Lachende Heiterkeit erfüllte mein Herz, als ich den Steg betrat und sich mir wie immer eine außergewöhnliche Sicht darbot.
Der Sommer tanzte auf dem Wasser und hinterließ eine glitzernde Spur als Spiegelbild der Sonne. Seerosen blühten und wirkten elegant zu dem anthrazitfarbenen Wasser, welches den See sogar im Namen prägte. Die schwarze Stille wurde nur ab und zu von einem Fisch unterbrochen, der gelegentlich lustig aus dem Gewässer sprang, als wollte er versuchen einen Sonnenstrahl einzufangen. Die Geräuschkulisse war von Libellen und Kröten erfüllt, ein Surren und Quaken, das die Luft in eine leichte Vibration versetzte.
Doch meine Gedanken genossen nicht lange die Natur, denn sie kehrten zu dem sonderbaren Gesang zurück. Ein Gefühl, dass mir das Lied vertraut vorkam, wollte mich nicht verlassen. Es war von einem Schloss die Rede, doch ich dachte nicht an das Jagdschloss, das stolz über die Granitz blickt, als wollte es den Wald bewachen. Mein Blick sank, ich blickte auf das dunkle Gewässer, dann war es, als würde ein Gedanke eintauchen und eine Erinnerung hervorholen.
„Die Sage vom Schwarzen See“, murmelte ich nachdenklich. Auf einmal wehte ein kühler Luftzug, schlich sich heimlich von hinten an, als wollte er meine Worte erfassen und wegtragen. Fröstelnd rieb ich mir die Arme und wunderte mich über den plötzlichen Temperaturwandel im Sommer. „Was war das denn?“
Ich drehte mich um und ging langsam den Steg zurück, bis ich den Waldboden wieder unter meinen Sohlen spürte. Auf einmal fühlte es sich so an, als würde Kälte rasch an meinen Schuhen, bis hin zu meinen Schultern klettern, als würde sie meinen gesamten Körper vor einer mächtigen Präsenz warnen. Überflutet von dieser Gefühlswahrnehmung wich ich reflexartig einen Schritt zurück und blickte mich um in der vagen Hoffnung eine Antwort zu finden. Doch es vergingen einige Momente ohne jegliche Geschehnisse.
Da wog ich mich schon fast wieder in der Normalität, als ein Windstoß durch den Wald jagte. Ein lautes Knarzen ertönte, als würde ein leidendes Tier dem Wind als Jäger zur Beute werden. Furchtbar war das Geräusch, unangenehm, schoss ein Kribbeln durch meinen Körper. Angst begleitete das Gefühl der Verwirrung in mir. Woher kam dieser Wind und das Knarzen, das an meinen Nerven zerrte?
Der Wind legte sich und das Knarzen verstummte. Ich stand auf, denn ich hatte mich unbewusst hingesetzt, lag sogar zusammengekauert am Boden. Doch bevor ich überhaupt einen Gedanken fassen konnte, sprach man zu mir: „Was hörtest du mit?“
Meine Augen wurden groß und man hätte die Furcht in meinem Gesicht lesen können. Die Stimme, die da zu mir sprach war nicht menschlich. Sie war anders, unbeschreiblich. Ein jeder würde sie vielleicht mit der Stimme eines weisen, gealterten Mannes vergleichen, versteckten sich doch aber Spuren eines jungen Erwachsenen in ihr. Das alles aber in einem Tonklang, den ein Menschenohr noch nie vernommen hatte. Ich beschrieb sie im Nachhinein immer als ein durchdringendes Brummen.
„Was hörtest du mit?“, brummte die Stimme wieder, fast schon wütend.
Mut brachte mich nicht zum Reden, sondern Angst durch die Forderung: „Ich verstehe nicht, was du meinst.“
„Scheinheilig, unhöflich und hält es nicht mal für nötig mich seines Blickes zu würdigen!“
Ich befürchtete, dass ich völlig durchgedreht sein musste. Unwillkürlich hob ich meine Hände an meinen Kopf und schloss die Augen, fest darauf fixiert meine Gedanken zu ordnen.
„Und was macht er jetzt? Denkt er nach? Hörst du, du sollst nicht grübeln! Was hörtest du?“, wiederholte er.
„Wer will das wissen?“, fragte ich verzweifelt.
Es war einen Moment lang still und dann hörte ich wieder diese Stimme, doch plötzlich schien aus ihr die Wut gewichen zu sein. Sie sprach: „Nach all der Zeit vergesse ich doch tatsächlich noch meine Gestalt. Ich mag mich vielleicht äußerlich gewandelt haben, doch kein Zauber dringt je durch Sinn und Gedanke.“
Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte, wollte es nicht für wahr haben, doch verstand die Worte. Mein Blick hing an der alten Eiche, die in der Mitte der Lichtung stand. Die Stimme unterbrach das Schweigen wieder: „Da meine wahre Gestalt dir offenbart ist, kümmert's nicht, was du gehört und was du nun weißt.“
Ich ging langsam in Richtung des Baumes, bis ich zu dem kniehohen Holzzaun kam, den man vor einer Weile hier gezogen hatte. Nun umkreiste ich den Baum, mein Gesicht starr, die Augen die Rinde absuchend. Wonach? Ich wusste nicht, was ich mir erhoffte, vielleicht ein Gesicht? Als ich ihn einmal umrundet hatte, hörte ich ein sanftes Rascheln. Die Blätter des Baumes zitterten leicht und ich hob erstaunt die Augenbrauen.
„Wenn dein Auge mich so sähe, wie ich einst war, dann wär' das Licht in deinem Auge ein Strahl, der junge Schönheit und Pracht erfasst und nicht etwa ein Funken von böser Ahnung. Ich bin kein Troll, der dich unter die Wurzeln eines Baumes ziehen will.“
Natürlich war ich noch vollkommen benommen, denn wer erwartet schon bei einem Spaziergang durch den Wald von einer alten Eiche angesprochen zu werden.
„Schweigen habe ich genug in diesem Wald. Buchen sind nicht sehr gesprächig.“
„Ähm... Entschuldigen Sie!“, sprach ich zu dem Baum, verwirrt, ob ich die Krone oder den Stamm anblicken sollte. Da ich meinen ungewöhnlichen Gesprächspartner nicht verärgern wollte, führte ich das Gespräch fort: „Wart Ihr derjenige, der dies Lied sang?“
Plötzlich zuckte einer der dicken Äste, was mir einen furchtbaren Schrecken einjagte. Doch der Baum beachtete dies nicht und antwortete: „Ja, das war ich sehr wohl. Gefiel es dir?“
„Sehr sogar“, war meine ehrliche Erwiderung. „Wenn Ihr erlaubt, würde ich fragen wollen, ob dies Lied eure Geschichte verrät.“ Ich bemühte mich einer gehobenen Sprache, was mir leichter fiel, als gedacht. Ein kurzer Seitenblick verriet mir, dass an diesem Sommernachmittag sich wohl kein Besucher an den See wagte.
„Ach, ich merk es. In aller Munde scheint meine Geschichte unter den Leuten hier zu sein. Ja, ich bin es. Der junge Schlossherr, von dem die Sage zu berichten weiß. Glaub mir, Junge, oder glaub mir nicht. Doch dort, wo jetzt das schwarze Gewässer lauert, stand einst ein Schloss, schöner als der Frühling und stolzer als der Winter. Ich wagte mich auf zur Jagd, vergaß meine edlen Handschuhe, ohne die ich kein Wild erlegen vermag. Da ritt ich zurück und fand einen See, wo einst mein Heim thronte.“ Er schwieg und traurig knarzten ein paar Zweige.
„Nur ein Stuhl, auf dem Eure Handschuhe lagen, schwamm auf dem Wasser.“, fuhr ich fort.
„So ist es“, ergriff die Eiche wieder das Wort. „Ich griff die Handschuhe, ohne zu ahnen, dass nur der Stuhl mein Schloss hätte retten können. Da versank der Stuhl und auf ewig mit ihm mein Gefolge, Besitz und das prächtige Schloss, das ich so liebte.“
Mitleidig sah ich den Baum an und glaubte auch seinen Blick zu spüren. Ich setzte mich auf einen Holzbalken vom Zaun und betrachtete den Boden in einem Gedanken versunken, während der Baum weitererzählte: „Seitdem leide ich sehr unter Verlust und meiner Torheit. Ich ärgerte mich sogar so sehr, dass ich zu diesem Baume wurde.“
„Das ist sehr merkwürdig. Ich verstehe nicht, wie man sich so ärgern kann, dass man zum Baum wird.“
„Genauso wenig, wie ich verstehen kann, wie ein Schloss in einem scheinbar herbeigezauberten See versinken kann.“
„Wie ist es so als Baum?“, fragte ich forsch.
Wieder raschelten die Blätter und ich vermutete, dass der Baum damit ein Schmunzeln oder gar ein Lachen ausdrückt. „Anfangs habe ich es gar nicht gemerkt. Ich wunderte mich, warum die Buchen gar nicht mit mir sprachen, warum sie so weit fern von mir standen. Ja, ich sah die Buchen wie andere Menschen, ein merkwürdiges Gefühl. Ich sprach sie oft an, doch schien es mir so, als würde meine Stimme sie nie erreichen. Später dann dachte ich sie würden mich ignorieren, da sie so weit weg von mir standen. Ich, im Mittelpunkt der Lichtung. Sie, gaffend mich umzingelnd. Ich vermutete, dass sie arrogant, wie sie wirkten, sich schön mit ihrer glatten Rinde und saftig grünen Blättern fühlten.“
Ich betrachtete die Eiche genauer. Die Rinde war von der Natur gekerbt, wie Falten einen alten Mann zeichnen. An einigen Stellen fiel sie schon ab und war beschädigt. Die Blätter waren dunkel und löchrig.
„Ihr seht trotzdem sehr eindrucksvoll aus!“
„Du hättest mich als Mensch sehen sollen. Oh ja! Das hätten sie alle. Besonders die garstigen Knaben, die immer gaffend vor mir stehen und sagen, was für ein hässlicher Baum ich sei. Menschen haben sich verändert.“
Plötzlich stand ich auf und sprach mit einem Anflug von Ärger: „Was soll das heißen? Menschen haben sich verändert?
„Zu meiner Zeit als Mensch erfuhr ich nur angenehme Gesellschaft für die Normen noch Begriffe waren.“
Da stapfte ich zum Baum und hielt vor ihm an, ehe ich an der Rinde hinauf sah. Unbeeindruckt von seiner Größe zischte ich: „Das wundert mich nicht. Einem Schlossherr dient sein Gefolge selbstverständlich. Normen sind Regeln, die böse Gefühle und Gedanken verstecken sollen.“
Es knackte so laut, dass ich befürchtete ein Ast würde abbrechen. Ein leichtes Zucken durchfuhr meinen Körper und löste die Anspannung.
„Hegst du denn auch böse Gedanken? Unverschämtheit! Du bist nicht anders als diese, die den Zaun gezogen haben.“
Ich lachte höhnisch. „Den Zaun hat man zu Eurem Schutze gezogen. Damit niemand auf die Idee kommt, auf Euch zu klettern und Ihnen zu schaden!“
Das lachende Rascheln und das Knacken der Äste taten sich zusammen, als wollten sie mein höhnisches Lachen übertrumpfen. „Da merkt man doch nur, dass ein Mensch heutzutage auf mich heraufklettern will, um mir zu schaden.“
Es hatte keinen Sinn, denn das Gespräch würde ewig so zugehen. Aber diese Erkenntnis hielt mich nicht auf weiter zu diskutieren, also sprach ich trotzdem: „Ihr seid ja auch nur ein Baum! Wieso sollte man höflich zu Ihnen sein?“
Da war er wieder, der kalte Wind, doch diesmal kam er mir entgegen, drückte mich vom Baum weg, bis ich auf den Holzbalken fiel. Sitzend schien es mir so, als würde sich die mächtige Krone des Baumes über mich beugen und ich spürte einen bösen Blick. „Sag mal, Junge! Wiederhole deine Worte, denk darüber nach! Ich stehe hier seit über fünfhundert Jahren. Ich kriege mehr mit von der Welt, als du zu glauben vermagst. Höre ich doch oft die Gespräche von Leuten, die sich hier finden, um eine Konversation über die Welt zu führen. Ich habe lange gebraucht, bis ich verstanden habe, worüber sie sprachen, musste viel lauschen. Doch irgendwann habe auch ich es selbst gemerkt. Die Luft ist lange nicht mehr so frisch, wie sie damals einmal war.
Der Duft des Waldes war intensiver und erfüllte einen mit dem Gefühl, die Natur leben zu können als ein Teil von ihr. Doch jetzt rieche ich unbekannte Düfte und höre neben des Waldes Stille, Klänge, von denen man sagt sie kämen von Flugzeugen.
Gar nicht erst zu sprechen von sonderbarem Papier, das hier achtlos umhergeschleudert wird. Wie nannten sie es gleich? Verpackungen? Ich sah einst auch welches im Wasser schwimmen. So sehr ich diesen See auch verfluche, fand ich den Anblick widerlich, denn er war nicht die Natur.
Und was ist das für eine gnadenlose Hitze, die ich auf meinem Haupt, der Baumkrone da, jeden Sommer ertragen muss? Es ängstigt mich manchmal so sehr, dass ich fürchten muss, mir brennen all die Blätter ab. Doch auch hier fand ich Erklärung in den Worten von Menschen.
Aber das Allerschlimmste, das mein Ohr ertragen musste, waren Schreie. Stumme Schreie; die von Bäumen. Was waren das für Kolosse und kreisende Zähne, die meine jetzigen Verwandten da zu Fall brachten? Ich höre sie in vielen Wäldern, meiner all so geliebten Insel. Auch wenn ich nur diese Lichtung erblicken kann, ich schwöre auf mein versunkenes Schloss, man holzt zu viel der Wälder ab. Wofür wird so viel Holz gebraucht? War ich doch nie des Krieges Freund, weshalb ich vermute ihr baut böse Katapulte und andere grausame Waffen wie diese Flugzeuge.
Hör her! Klimawandel, Verschmutzung, Krieg, Atomkraft; all dies sind mir keine unbekannten Begrifflichkeiten mehr.“
Der Wind ließ nach und ich blickte den Baum verdutzt an. Das überraschte mich sehr und ich überlegte lange. Auch das Rascheln ließ nach und es herrschte Stille.
„Verzeih mir“, meinte der Baum. „Ich-“
„Entschuldigungen sind unangebracht. Ihr habt Recht!“ Ich schluckte. Sogar ein Baum bekam all dies mit? Wir schwiegen einen Moment und ich lauschte. Ich hörte kein Zwitschern und keine Kröten. Ich hörte Autos in der Ferne, die Eisenbahn von Rügen, die durch die Granitz fuhr und noch weiter weg, ja, da hörte ich ein Flugzeug. Da schossen mir Bilder in den Kopf von Dingen, die der Baum erwähnte. Was richten wir Menschen für Schaden auf dieser Welt an?
Ich stampfte mit dem Fuß auf den Boden und fluchte leise. Bestürzt blickte ich zu Boden. „Oh, Ihr wisst ja gar nicht, welch grausame Bilder mir in den Kopf kommen, wenn ich Eure Worte höre. Es schmerzt mich zu sagen, dass Ihr Recht habt. Ihr mögt mir vielleicht nicht glauben, doch ich will etwas verändern, unsere Welt schützen, vor Menschen, die nicht achten, was die Natur uns schenkt. Doch es ist nicht leicht. Wer würde auf mich hören?
Dazu bin ich ja selbst nie richtig bereit. So überwältigend ein Gefühl auch für den Moment sein mag, es ist zu wenig. Scheu ich mich vor Arbeit? Vor Verantwortung? Vor dem Versagen?“
Ich stand auf, meine Worte wurden lauter, sie waren fast ein Rufen, ein Schrei, an die Welt, an die Menschen, an die Menschen, die nichts hören. „Diese Welt ist ein grauenvoller Ort, weil wir sie zerstören! Wir alle sehen es, wir hören es und manchmal fühlen wir es auch.“
Mein Schrei rief mir mehr Bilder in den Kopf, es war wie eine Vision. Ich sah abgeholzte Wälder und zerstörte Lebensräume, ich sah Krieg und Friedhöfe, ich sah wie jemand Müll auf den Boden warf und ich sah einen verdreckten Tümpel, ich sah die Eiche auf dieser Lichtung und ich sah die eine Wüste von Baumstümpfen, ich sah große Versprechen und ihre Resultate. Ich sah die Zerstörung der Welt.
Aber ich spürte plötzlich eine Hand auf meiner Schulter, ich öffnete die Augen, die ich zusammengekniffen hatte und sah... den Schlossherrn.
Er stand vor mir in prächtiger Kleidung, schönem Gesicht, als hätte ein Engel diese zierlichen Züge erschaffen, Augen, die klug und weise strahlten und eigentlich nicht zum jungen Gesicht passten. Goldenes Haar fiel gewellt auf die Schultern, die stark und standhaft waren. Sein Lächeln beruhigte mich, die Wut und Trauer in mir, und vor allem eigene Vorwürfe. Unsere Augen trafen sich und ich spürte eine tiefe Verbindung zu dem Menschen aus fernen Zeiten.
„Ich will dich etwas lehren“, sprach er mit einer freundlichen, wohlklingenden Stimme, „obwohl du schon fast mehr weißt als ich. Es gibt einige Menschen da draußen, die werden so ähnlich denken. Du bist keineswegs allein und du kannst etwas bewegen, auch wenn du es vielleicht nicht selber stoppen kannst. Rette, was du retten kannst! Spürst du das Gefühl? Es ist der Wille zum Tatendrang. Konzentriere dich, halte ihn fest! Dieser Wille ermöglicht dir, deinen Wunsch zu stillen. Den Wunsch in eine, wenn auch nur ein wenig bessere Welt blicken zu können, mit dem Gefühl etwas verändert zu haben. Lass dein Leben nicht an dir vorbeigleiten! Viele Menschen tun dies, ehe sie dem Tod entgegenblicken und ihre Träume und Wünsche mit ihnen diese Welt verlassen. Bemühe dich, dass auch dein Wunsch diese Welt verlässt, aber nur, weil du ihn verwirklicht hast. Ich habe Vertrauen in dich.“
„Danke!“, sprach ich und meinte es nie so ernst, wie in diesem Moment.
„Versprich mir eines! Verliere dich nicht selbst in den Trümmern von Niederlagen, sondern suche Hoffnung in der Sonne, Motivation im Mondschein und Kraft im Wald. Es wird ein harter Weg, doch ich gebe dir das Versprechen: Du wirst glücklich sein.“
Es war alles gesagt. Der Schlossherr verschwand. Das Letzte, was ich sah, war ein Lächeln und dann umgab mich eine warme Aura. Ich fühlte mich anders. Sicher. Entschlossen. Mutig.
Ich rannte los. Ich rannte für den Moment, denn es fühlte sich gut an, es gab mir Kraft, verstärkte das Gefühl, als würden Sorgen wie Lasten von mir im Lauf abfallen.
Am Ende der Lichtung blieb ich stehen und blickte über die Schulter. Es wehte kein Wind, aber die Äste der Eiche bewegten sich sanft, als würden sie mir zum Abschied winken. Da drehte ich mich um, lächelte und war bereit.
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 Nachwort:
Diese Geschichte war für einen Wettbewerb, zudem wir in der Schule animiert worden waren. Das Thema war "Umwelt" zu der wir einen epischen Text verfassen sollten. Da ich selber auf Rügen wohne und mir die Sage des Schwarzen Sees besonders gut gefällt, habe ich versucht dort einen gewissen Zusammenhang herzustellen.
- Der Traumpilger (13.10.2013)

Die Geschichte der Freundschaft

oder auch  
„Der Junge, der auszog, um einen Freund zu finden“

Eine Kurzgeschichte
Kategorie: Märchen
Herbst, 2011
 

Das Kerzenlicht flackerte, als ein nächtlicher Frühlingshauch durchs offene Fenster wehte. Ein Junge, vielleicht fünfzehn Sommer alt, also schon fast ein junger Mann, saß in seiner Kammer, den Blick und den Geist einer spannenden Geschichte gewidmet. Rasch flogen seine Augen über die Seiten des Buches, sogen jedes Wort auf, als ob es die letzte Nahrung für die nächsten Wochen wäre. Er las schon so lange, dass er nur einmal aufblicken musste, um eine Kerze zu entflammen, als der Tag zur Nacht wurde.
Draußen war es mittlerweile kühl und still geworden. Die Bauern hatten schon lange die heutige Feldarbeit erledigt und ruhten nun aus für den nächsten Tag. Kinder, die draußen, frohgelaunt nach Ende der Dorfschule, gespielt hatten, lagen schon längst in den Federn und erlebten die süßesten Träume, wie sie nur Kinder haben können. Händler hatten ihre Läden geschlossen, stellten das Marktgeschrei ein und begaben sich, müde vom Anpreisen ihrer Waren, in ihre Betten. Der Klatsch der Waschweiber, die Geräusche der Viehherden, Flötenklänge des musizierenden Nachbarmädchens und weitere Laute des täglichen Treibens waren verstummt. Doch in der Fantasie des Jungen spielte sich eine andere, dem Alltag ferne Handlung ab.
In seinem Kopf entstanden die schönsten Täler, die mächtigsten Berge, die tiefsten Meere, die dunkelsten Gruften, die prachtvollsten Städte, die weitesten Wüsten, die eisigsten Schneelandschaften und jeder andere noch so aufregende Ort. Das Buch erzählte von zwei Jungen - oder noch genauer: von zwei Freunden, die an solchen Orten, die mysteriösesten und spannendsten Abenteuer durchstanden. Sie trafen Leute, gute und böse; auch neue Freunde, doch diese kamen und gingen und nur die beiden Jungen blieben beieinander.
Gerade als sie kurz davor waren einen Schatz zu finden, schloss der lesende Junge das Buch. Er blickte in die Nacht hinaus und betrachtete den Mond, der einen silbrigen Schleier auf den Wald und die Dächer legte.
Ein Freund, dachte der Junge aufgeregt nach. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen, bevor er die Kerze ausblies und sich den anderen Bewohnern anschloss, um auch ins Reich der Träume zu gelangen.
Am nächsten Tag war es die Sonne, die ihn weckte. Lange lag er noch wach in seinem Bett, während er die Decke anstarrte und sich seinen nächtlichen Traum wieder ins Gedächtnis rief: Er glaubte den Schatz aus der Geschichte gefunden zu haben. Doch war es nicht das Gold, die Edelsteine und all die anderen kostbaren Reichtümer, die sein Herz warm werden ließen, sondern das freundschaftliche Gefühl, das er empfand, als ihn die beiden Jungen aus dem Buch umarmten und einen Freudentanz anstimmten.
Nachdem er mit seinen Eltern zu Morgen aß, erzählte er ihnen von einem spontanen Plan, den er sich ausgemalt hatte. Er wollte losziehen, um zu erfahren, ob die Freundschaft, wie sie im Buche stand, auch Wirklichkeit werden konnte. Er wollte erfahren, was man erwarten darf, wenn man einen Freund hat. Er wollte einen wahren Freund finden. So bat er seine Eltern um Erlaubnis und diese willigten ein, die Sehnsucht des Jungen erkennend.
So zog er noch am folgenden Mittag los und trug nur das bei sich, was er wirklich brauchte. Da ließ er zum ersten Mal das Dorf, seine Heimat, ja sogar einen Lebensabschnitt hinter sich.
Als er an den Waldrand kam, hörte er das Bellen eines Hundes. Erschrocken wich er zurück, als dieser plötzlich aus einem Busch sprang, kläffend auf ihn zugerannt kam, ihn ansprang und zu Boden warf. Aber nur um sein Gesicht abzulecken. Lachend versuchte der Junge den verspielten Hund aufzuhalten, bis dann auch sein Herrchen, der Jäger, kam. Der Jäger entschuldigte sich, doch der Junge versicherte ihm, dass alles in Ordnung sei.
„Sag, Jäger!“, sprach der Junge. „Was ist für dich ein wahrer Freund?“
„Ganz sicher, mein Hund! Obwohl er mir etwas zu verspielt sein mag, kann ich während der Jagd auf ihn zählen. Er ist mein bester Freund, da er mir immer treu ist.“
„Treu?“
„Treu!“
„Danke, Jäger! Ich ziehe weiter! Guten Tag!“
So ging der Junge weiter. Als er den Pfad am Waldrand eine Weile ging, hörte er das knarrende Wasserrad der Mühle. Da dem Jungen die Füße weh taten, klopfte er an der Tür des Müllers, der öffnete und ihn gerne für eine Nacht Unterkunft gewährte. Beim Abendessen kam auch der Müllerbursche hinein zu Tisch und als sie alle gespeist hatten, sprach der Junge: „Sag, Müller! Was ist für dich ein wahrer Freund?“
„Ganz sicher, mein Gehilfe! Obwohl er manchmal dumme Fragen stellt, ist er doch immer bemüht seine Arbeit ordentlich zu machen, was ihm auch gelingt. Er ist mein bester Freund, da er ein hilfsbereiter Bursche ist.“
„Hilfsbereit?“
„Hilfsbereit!“
„Danke, Müller! Ich mag mich jetzt zu Bette legen, um morgen mit der Sonne weiterziehen zu können.“
So ging der Junge ins Gastzimmer und schlief ein, begleitet von süßen Träumen. Nachdem die Sonne am nächsten Morgen hinter den Hügeln emporstieg, war der Junge auf den Beinen. Zum Abschied winkte er dem bereits schuftenden Müller und seinem Lehrling zu. Als er auf den Pfaden des Waldes ging, fing es an zu regnen, so plötzlich, dass der Junge sogar erschrak. Schnell lief er weiter, bis er bei einer Waldlichtung auf eine kleine Holzhütte traf. Durch die Fenster sah er Licht und so eilte er schnell zur Tür und klopfte. Eine schwache Stimme, die er beinahe überhörte, bat ihn herein. In einem großen Bett lag ein bleicher Mann, der sehr krank zu sein schien. Der Junge nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu dem Kranken.
„Ach, mein Leben erlischt“, seufzte der Kranke und nahm die Hand des Jungen. „Mein Freund eilte los, um den Heiler zu holen, doch er wird zu spät kommen. Ach, mein Freund!“
„Sag, guter Mann!“, sprach der Junge. „Was ist für dich ein wahrer Freund?“
„Ganz sicher, dieser! Obwohl er mich selten besucht, ist er doch in schlimmen Zeiten wie diesen ein guter Beistand. Er ist mein bester Freund, da er so fürsorglich handelt.“
„Fürsorglich?“
„Fürsorglich!“
Der Kranke sank sanft in den ewigen Schlaf und der Junge blieb noch eine Weile, ein paar Abschiedsworte dem Mann schenkend, den er nur kurz kennenlernte.
Da ist er nur ein kleines Stück gereist und hat schon so einiges gelernt. Treue, Hilfsbereitschaft und Fürsorglichkeit; alles Eigenschaften eines wahren Freundes. Wenn er weiter reist, wird er bestimmt noch mehr erfahren. Er strebte nun danach, den perfekten Freund zu finden; zu wissen was diesen ausmacht. Doch irgendwann muss er, wie der Freund dieses Mannes, von einem Seelenverwandten Abschied nehmen. Möchte er das? Mit diesen Gedanken verließ er das Haus.
So reiste er im Regen weiter, dem verstorbenen Mann seinem Frieden überlassend. Als er den Wald nun endlich hinter sich gelassen hatte, war er ganz durchnässt und fror. Heimweh plagte ihn, doch er konnte jetzt nicht umkehren. Nicht bevor er den perfekten Freund gefunden hatte, nicht bevor er überhaupt wusste, wie ein perfekter Freund sein muss.
So kam es, dass er sich vor Kälte geschwächt unter einer großen Trauerweide hockte, die am Ufer eines Flusses stand. Erschöpft drohte er einzuschlafen und sich seinem Schicksal hinzugeben, als der Klang von Pferdehufen an sein Ohr drang. Wenig später, der Junge konnte sein Glück nicht fassen, stand vor ihm ein weißes Kleinpferd. Sein Reiter war ein Junge seines Alters.
„Hilf mir!“, bat der frierende Junge. Der Andere half ihm auf sein Ross und ritt dann mit ihm zum nächsten Dorf.
Da wurde es nun Nacht, als der Junge mit seinem Retter an einem Tisch in einem Gasthaus saß.
„Sag, mein Retter!“, sprach der Junge, doch wurde von seinem Gegenüber unterbrochen, der bescheiden meinte: „Ich verdiene doch keinen Ruhm für eine menschliche Tat!“
Leicht säuerlich, dass der Junge unterbrochen wurde, fing er von neuem an: „Sag! Was ist für dich der perfekte Freund?“
„Komische Frage!“, bekam er kichernd als Antwort.
Der Junge war entsetzt. Eben noch glaubte er einen Freund gefunden zu haben und jetzt war dieser so merkwürdig zu ihm. Diese Art mochte er nicht. Das sagte er seinem Retter auch ins Gesicht, doch dieser ließ sich nicht beeindrucken: „Du möchtest also wissen, was für mich ein perfekter Freund ist?“
„So sagte ich es bereits!“, stöhnte der Junge.
„Ein perfekter Freund ist für mich jemand, der mich schätzt wie ich bin und meine gute Seite über meine Gewohnheiten, so nervend sie auch sein mögen, stellen kann. Er selber darf auch seine Fehler haben, denn was er mir gibt, gebe ich ihm. Man darf sich streiten, muss aber auch vergessen, verzeihen. Ich muss ihn nämlich auch wertschätzen und tolerieren.“
Da war der Junge still. Betroffen blickte er zu Boden.
„Wertschätzung und Toleranz“, murmelte er leise.
„Wertschätzung und Toleranz!“
Zum Beginn meiner Reise habe ich einen Freund gesucht. Dann habe ich mich gefragt, was ein wahrer Freund ist. Und dann? Ich habe den perfekten Freund gesucht. Dabei habe ich nie daran gedacht, was ich dazu beisteuern muss. Da fällt mir ein: Der Jäger, der Müller und der Kranke. Sie alle nehmen auch die schlechten oder unangenehmen Seiten ihrer Freunde hin. Was war ich für ein Narr?
Lächelnd betrachtete sein Gegenüber ihn beim Denken. Dann klopfte er ihm auf die Schulter, blickte ihm in die Augen. Der Blick. Dieser Blick. Freundschaftlicher Blick.
„Ich will es versuchen! Lass mich dein Freund sein!“, sagte der Junge entschlossen. „Ich möchte dir immer treu sein, dir helfen, wenn du in Not bist, dir in schlimmen Zeiten zur Seite stehen, dich akzeptieren und tolerieren; und dich bis in den Tod begleiten.“
Eine freundschaftliche Umarmung folgte. Er gewann einen Menschen in seinem Leben. Einen Freund. Den für ihn perfekten Freund.
So gingen sie ihre Wege von nun an zusammen, erlebten Abenteuer, durchstanden harte Zeiten und trafen Leute, gute und böse; auch neue Freunde, doch diese kamen und gingen und nur die beiden Jungen blieben beieinander.

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Nachwort:
Die Freundschaft ist für mich eines der interessantesten Themen in der Literatur überhaupt, denn sie verleiht einem Werk immer etwas Besonderes. Sie kann uns tief berühren, wie beispielsweise die innige Treue Sam's, die er Frodo gegenüber aufweist ("Der Herr der Ringe" - J.R.R. Tolkien); oder sie bringt uns zum Lachen, wenn wir einen tollpatschigen Gefährten eines Protagonisten kennenlernen.
Jedenfalls wollte ich diese Kurzgeschichte mit Moralcharakter damals einfach schreiben, eben aus dieser Begeisterung für das besondere Band zwischen zwei Menschen. Es war zudem mein erster Versuch einen etwas märchenhaften Stil anzulegen.
- Der Traumpilger (13.10.2013)

Der Schlüssel

Eine Kurzgeschichte
Kategorie: Tragik 
Herbst, 2011

„Er ist so ein netter Junge!“ - „Höflichkeit in Person!“ - „So unbesorgt und glücklich!“ - „Der Traum von einem Kind!“
Diese und weitere Worte der Bewunderung bekam Liam, ein neunjähriger, blondhaariger und lebenslustiger Junge, fast jeden Tag zu hören. Sein Vater, Schuldirektor und Lehrer für Naturwissenschaften, beglückte das sehr und ließ keine Gelegenheit aus seinen Sohn vorzuführen.
Oft spielte Liam mit seinen Freunden und man hörte ihn nur lachen. Gelangweilt oder gar traurig sah man den Jungen nie. Immer erfreute er jedermann mit seinem Späßen, Witzen und dem süßen Kinderlachen und den funkelnden blauen Augen, aus denen die pure Gutmütigkeit blickte. Denn immer dort wo Hilfe benötigt wurde, war der Junge zur Stelle. Ob er nun mit seelischem Beistand oder mit körperlicher Arbeit half, letztendlich war jeder froh auf seine Hilfe zählen zu können. Falls er mal Unsinn anstellte, hatte er eine Art sich zu entschuldigen, die einem sofort jeden Groll vergessen ließ und ein flüchtiges Lächeln über die Lippen zauberte. Und doch war er nur ein Kind. Die Familie hatte einen außerordentlich schweren Verlust erleiden müssen. Seine Mutter starb früh und man vermutet keinen natürlichen Tod. Allerdings konnte man nie etwas nachweisen. Liam selbst war gerade mal sieben Jahre alt, als seine Mutter starb und bis heute hat er auch keine richtige Erinnerung daran, weshalb man vermutet, dass er es vielleicht verdrängt hatte. Im Haus hingen auch keine Bilder von ihr und der Junge vermied es zu fragen, um den Vater, der sehr unter dem Tod seiner Frau litt, nicht traurig zu machen.

Eines Tages - es war einer der Tage, an denen Liam besonders gut gelaunt war - lief der Junge durch das ganze Haus. Selbstverständlich war er dabei ganz ruhig, wie eine Maus. Er wollte seinen schlafenden Vater nicht wecken, da dieser sich von einer stressigen Arbeitswoche erholen musste. So lief und kroch er im ganzen Haus herum, so tuend, als ob er ein Schatzsucher wäre.
Nachdem er die Treppe heruntergeklettert war, befand er sich in dem großen Hausflur. Vorsichtig hüpfte er von 'Stein zu Stein', um nicht in die glühende Lava zu fallen, die im tiefen Abgrund brodelte. Endlich! Er war auf dem Teppich angekommen, den er sich als ein großes Plateau vorstellte. Der mutige Abenteurer war am Ziel. Irgendwo hier war der großartige Schatz auf seiner selbstgezeichneten Karte versteckt. Sofort fiel sein Blick auf die Skulptur einer griechischen Göttin. Sein Vater liebte solche Skulpturen. Liam liebte seinen Vater. Er brauchte diese Statue. Sein Vater wird sich bestimmt darüber freuen. Aufgeregt rannte er los, doch sein Fuß stieß gegen eine Delle im Teppich, sodass er stürzte. Er wartete. War er zu laut gewesen? Sein Knie schmerzte etwas. 'Ein Abenteurer kennt keinen Schmerz', dachte er sich der tapfere Liam und raffte sich auf. Er erhob sich, rückte seine Kleidung zurecht, sah sich um und erstaunte.
Der Teppich war verschoben und darunter kam eine versteckte Falltür zum Vorschein. Zwar wunderte Liam sich, was diese Tür da suchte, doch tat er so, als gehörte dies zum Abenteuer. Mit stolzgeschwellter Brust ging er zur Falltür und kniete nieder. Sofort entdeckte er die Schlaufe und zog daran. Langsam öffnete er die Klappe und leise legte er sie auf der anderen Seite ab. Mit großen Augen betrachtete er, was unter der Falltür zum Vorschein kam.
Eine kleine Kiste befand sich in einer ebenso kleinen Lücke im Boden. Liam hielt sich die Hände an die Wangen und ließ ein 'Erstaunlich!' verlauten. Das hatte er nicht erwartet. War dies wirklich eine Schatzkiste? Aber was hatte sie bei ihm Zuhause unter einem Teppich zu suchen? Viele weitere Fragen gingen ihm noch durch den Kopf, doch die wichtigste war, was wohl drin sein mag.
Behutsam nahm er die Schachtel heraus, als ob sie leicht zerbrechlich wäre und pustete den Staub von der Oberseite weg. Eine kleine Spinne krabbelte auf Liams Hand. Ihr nichts böse wollend, ließ er sie runter und sie eilte davon. Nun entdeckte er ins Holz eingeritzte Buchstaben. Es sah so aus, als hätte jemand wild mit einem Messer die Striche in das Holz gekratzt.
Plötzlich schreckte der kleine Junge auf. Er konnte ganz genau seinen Namen als erstes Wort identifizieren. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte konzentriert das zweite Wort zu entziffern. Ein E... Darauf vielleicht ein R? Ja, und gleich danach ein I! Der Buchstabe N erschien direkt zweimal hintereinander. Anschließend wieder eine Kombination aus E und R. Der darauffolgende Bogen war ganz klar ein U. N und G beendeten das Wort.
„Liams Erinnerung“, las er schließlich beeindruckt. Der Junge spürte plötzlich eine eisige Kälte in ihm. Was hatte das zu bedeuten? Es fühlte sich so an, als wäre etwas in dieser Kiste, das ihm Angst machte, aber auf der anderen Seite ihn so anzog, dass er sie öffnen musste.
Seine zittrigen Finger versuchten die Klappe anzuheben, doch die kleine Kiste ließ sich nicht öffnen. Liam erkannte auch sofort warum. Ein Schlüsselloch verweigerte den Jungen das Öffnen.
Eine Weile verharrte sein Blick auf dem Wächter der Truhe, als auf einmal die Kälte in ihm stärker wurde und gleichzeitig unbekannte Wut in ihm auf brodelte. Er nahm die Kiste und schlug sie immer wieder auf den Boden. Gierig nach dem Inhalt, gequält von der Angst, geleitet von der Wut. Trotz der wilden Versuche, die Kiste zu zerstören, blieb sie unbeschadet.
„Liam!“, drang eine wütende Stimme an des Jungen Ohr. Sofort war die Kälte und Wut in Liam verschwunden. Was sollte er nun tun? Er hörte Schritte, die von oben kamen. Sein Vater musste jeden Augenblick hier sein!
Er warf die Kiste in ihr Loch zurück, klappte die kleine Tür zu, zog den Teppich über das Versteck und kontrollierte nochmal alles. Da kam ihm plötzlich ein Gedanke. Was ist, wenn sein Vater fragte, was das für Geräusche waren? Er war ein grauenvoller Lügner. Seine Blicke wanderten im Flur herum und dann tat er etwas, dass er nie von sich erwartet hätte.
Ein lautes Scheppern war Ursache dafür, dass die Schritte des Vaters sich beschleunigten. Sofort war er die Treppe herunter gerannt und fand im großen Flur Liam vor, der sich weinend über die Scherben der antiken Frauenskulptur beugte.
Vor Wut errötet, hob der Vater den Finger und setzte zu schimpfenden Wörtern an. Doch Liam blickte seinen Vater an. In seinen blauen Augen glitzerte die kindliche Unschuld, die den Vater weich werden ließ.
Wenig später war der Vater dabei, die Scherben aufzufegen. Liam, immer noch leise schluchzend, schaute ihm zu. Tiefe Schuld packte den Jungen, wegen seiner absichtlichen Tat. Ehe er aber weitere Schuldgefühle entwickeln konnte, fing sein Blick ein besonderer Gegenstand. Als sein Vater sich vorbeugte, rutschte eine Kette aus dem T-Shirt. An dieser Kette war ein Schlüssel, angeblich ein Andenken an Liams Mutter. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Sanftes Mondlicht fiel durch die Fenster, als Liam wieder im Flur saß, die Kiste in seinen Händen. Er war die ganze Nacht wach gewesen, stand nicht auf, ehe sein Vater im Tiefschlaf war. Langsam war er ins Schlafzimmer geschlichen und hatte es mit einer Menge Glück und Geschick geschafft den Schlüssel jetzt in seinen Händen zu halten.
Nun saß er wieder am gleichen Ort, wo er gestern das Versteck gefunden hatte. Sein Blick verharrte auf dem Schlüssel. Er symbolisierte so vieles für ihn. Einmal ein starkes Schuldgefühl, da er ihn gestohlen hatte, obwohl dieser dem Vater so viel bedeutete. Er wird ihn ja zurückgeben, doch fühlt es sich so falsch an. So etwas hatte er noch nie getan, aber es musste sein! Denn es war der einzige Weg zum Ziel; der einzige, der den Wächter der Truhe besiegen kann. Was wird er ihm letztendlich überbringen? Freude und Glück, Traurigkeit und Schmerz? Wird der Schlüssel ein Freund sein oder ist der Wächter der Truhe sein Beschützer vor Unheil?
Liam, voller Anspannung, steckte den Schlüssel ins Loch und drehte ihn nach rechts. Klack! Die Kiste war entriegelt.
Langsam hob er den Deckel an. Das Holz war glatt und kalt. Die Truhe war offen. Liam blickte nach vorn. Doch dann senkte er vorsichtig seinen Blick. Ein goldenes Medaillon! Der Junge nahm es in die Hand und plötzlich stieg in ihm wieder die Kälte auf. Zögernd wartete er, doch dann öffnete er die Klappe des Medaillons. Da war ein Foto! Das Foto einer schönen Frau. Ihre blonden Haare und ihre blauen Augen kamen Liam so bekannt vor. Und plötzlich zuckte eine Erinnerung durch seinen Kopf. Das war seine Mutter!
Glück und Wärme erfüllte ihn, doch dann passierte etwas Merkwürdiges. Bilder erschienen vor seinen Augen. Er erinnerte sich an Qualen und Trauer. Was war das? Er wollte schreien, es ging nicht. Er sah seine Mutter, streitend mit seinem Vater. Worüber redeten sie? Nein, er tut ihr weh! „Hör auf!“, wollte Liam brüllen, aber sein Hals war zu trocken, ließ nur ein Krächzen zu. Jetzt bewegt sich seine Mutter nicht mehr und eine letzte Träne rann über ihr Gesicht.
Die Bilder verblassten. Liam erinnerte sich. Sein Vater nahm seiner Mutter das Leben. Er war dabei, als er jünger war. Entschlossen stand er auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rannte in sein Zimmer. Später hatte er einen Rucksack gepackt. Er stand im Flur und blickte auf die geöffnete Kiste.
„Tschüss... Papa!“, sagte er mit krächzender Stimme, verließ das Haus und floh in die Nacht.

10 Jahre später...
Liam ist nun 19Jahre alt und eifriger Student. Sein Studienfach hat er sich sorgfältig ausgesucht, strebte es schon ziemlich früh an. Seine Pflegeeltern taten alles, damit sie ihm dieses Studium finanzieren konnten.
Liam war gerade auf dem Weg zur Universität. Gedankenverloren griff er in seine Hosentasche und holte einen kleinen Schlüssel heraus.
„Heute, vor 10Jahren“, murmelte er leise. Er war damals, als ihn die Vision ergriff, auf die Straße geflohen. Ehe er in der Nacht erfrieren konnte, fand ihn ein junges Ehepaar, das ihn fortan aufnahm. Es war ein schwieriger Prozess, bis sie das Sorgerecht für Liam erhalten konnten. Doch sie schafften es letztendlich und Liam wuchs gut bei ihnen auf. Die Erfahrung hinterließ zwar Spuren bei ihm, doch veränderte seinen Charakter nicht schwerwiegend. Er wurde nur nachdenklicher und ruhiger, und innerlich auch tatsächlich etwas trauriger.
Den Schlüssel trug er jeden Tag bei sich. Er konfrontierte ihn zwar mit seiner Vergangenheit, aber war er auch wichtig für ihn, da sich an diesem Tag die Wahrheit offenbarte. Das Medaillon, aber, ließ er zurück. Sein Vater sollte es behalten, um zu wissen, welch grausamen Fehler er beging. Er sollte es tief bereuen.
Liam legte den Schlüssel in seine Brusttasche und betrat nun die Universität. Zusammen mit zwei Freunden ging er zur nächsten Vorlesung, die sich allgemein mit Gewaltprävention befasste.
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Nachwort:

Diese kleine Kurzgeschichte habe ich schon vor einer ganzen Weile verfasst. Ursprünglich ist sie für einen Englischwettbewerb gewesen, bei dem man eine Geschichte mit dem Thema "Key" (Englisch für Schlüssel) schreiben sollte. 
Inspiriert wurde ich von der Comicgeschichte "Der Junge mit dem Herz in der Kiste" ("The boy with the heart in a box") aus Roman Dirge's "Lenore: Noogies", bei dem es sich um einen Jungen handelt, dessen Herz sich in einer verschlossenen Kiste befindet. [Achtung: Spoiler!] Sein Großvater trägt den Schlüssel zu der Kiste um den Hals, unter dem Vorwand, dass der Junge kein Herz braucht, da Gefühle einen nur verletzen. Es läuft darauf hinaus, dass der Junge seinen Großvater ins Kaminfeuer stößt, den Schlüssel aus der Asche nimmt, die Kiste öffnet und sein Herz in sich einpflanzt. Dann fühlt er auf einmal nur Schmerz, da der Einzige, den er liebte im Feuer starb.
Außerdem ließ ich mich von Cedric Errol ("Der kleine Lord" - Frances Hodgson Burnett) zu Liam inspirieren.
"Der Schlüssel" spielt für mich eine wichtige Rolle in meiner Entwicklung des Schreibens, denn es ist meine erste Kurzgeschichte, die ich als gelungen empfunden habe. Auch wenn ich einiges daran heute anders gemacht hätte (z.B. das Entfernen des Epiloges), will ich sie unverändert lassen als eine Art Erinnerung.
- Der Traumpilger (13.10.2013)