Kategorie: Umwelt, Natur, (Sage)
August, 2012
Grünes Licht umhüllte mich. Die Sonne versuchte sich
durch das Blätterdach zu kämpfen, doch ihre Anwesenheit machte sich
nur durch vereinzelte Strahlen bemerkbar, die zwischen den Blättern
wie funkelnde Lichtkristalle wirkten. Der Wald spendete mir eine
angenehme Kühle, als ich zwischen den Bäumen wanderte und dem
Waldgeflüster lauschte. Wenige Leute hören das Flüstern
heutzutage. Sie mögen vielleicht noch den Gesang der Vögel
bemerken, den sie aber schnell wieder als einen monotonen Einklang
empfinden und sich lieber einem Tratsch mit dem Weggefährten widmen.
Doch wenn ich durch den Wald streife, höre ich die vielen Stimmen
der Vögel, die aufgeregt durcheinander zwitschern, als wolle jeder
dem anderen etwas erzählen, bis sie alle verstummen, wenn ein
stolzer Adler vorbei fliegt und sie seine Pracht ehren. Aber nicht
nur der stolze Adler war einer der beeindruckenden Waldbewohner. Ab
und zu versteckte ich mich hinter einem Gebüsch, um einen roten
Fuchs zu beobachten. Was für ein kluger Jäger er doch ist, denn
wenn er mich mal erblickt hatte, war er auf der Hut, ließ mich
selten aus den Augen, als wollte ich ihm seine Jagdbeute streitig
machen. Es waren aber nicht nur die Tiere, die mich beeindruckten.
Manchmal konnte ich, wenn der Wind sich etwas austobte, das ächzende
Knarren der Äste hören, als würden sich die Bäume, wie alte
Herren, über etwas beschweren. Dieser Gedanke löste dann ein
Schmunzeln von meinen Lippen, weil ich realisierte, wie ähnlich
dieser Ort uns Menschen ist.
Doch dann veränderten sich meine Züge. Ich spürte
eine Traurigkeit in mir und ich erinnere mich, wie ich immer zu Boden
blickte, wo das Laub im Winde leise spielte. Denn ich schämte mich
für die Menschen. Sie verschmutzen den Wald, werfen ihre Abfälle
durch die Gegend, als sei der Wald nur eine Müllhalde. Dann fällt
mir immer ein, wie meine Mutter mein Zimmer mit einer Müllhalde
vergleicht. Ja, so sind die Menschen wahrscheinlich. Ihr eigenes Haus
halten sie sauber, weil sie sonst von dem Abfall umgeben wären. Doch
der Wald ist ja nicht ihr Lebensraum.
Selbstverständlich gibt es da auch die andere Sorte von
Menschen, die den Wald pflegen, ihn lieb gewinnen und sich sogar als
Naturschützer einsetzen. Aber leider sind dies zu wenige Menschen
und wenn ich ehrlich bin, setze ich mich auch nicht auf diese Weise
für den Wald ein. Wenn ich dann daran denke, die leeren Verpackungen
am Waldesrand sehe, trifft es mich wie ein Schlag und ich wünsche
mir, dass ich mich mehr einsetzen würde. Aus den Augen aus dem Sinn,
denn dieser schmerzhafte Vorwurf bleibt wie der Abfall im Wald
liegen, wenn ich wieder nach Hause gehe oder mir töricht einrede,
dass ein einzelner Junge nichts verbessern kann.
Auf meinem heutigen Spaziergang aber, sollte sich etwas
an dieser Einstellung ändern. Ich verlange keineswegs, dass man mir
glaubt, was ich da in der Granitz auf Rügen erlebt hatte. Denn der
'gesunde' Menschenverstand warnt ja vor solchem Spuk und sagenhaften
Geschichten. Doch in meinem Gedächtnis bleibt dieses Ereignis als
Wunder vom Schwarzen See haften.
Da war ich also nun in einem der schönsten Wälder von
Rügen, der Granitz. Die Granitz befindet sich zwischen den
Ostseebädern Binz und Sellin, wo es von Touristen nur so wimmelt.
Nicht selten flüchtete ich hierher, um dem Trubel aus meinem
Heimatort Binz zu entkommen. Auch sieht man ab und zu einige
Wanderer, die die Wege entlang schlendern, nur um sich die Zeit zu
vertreiben. Doch nur der, der wagt, sich von den Wegen zu entfernen,
lernt die Schönheit und Geheimnisse des Waldes kennen. Aber diese
rätselhaften Orte und ihre Erzählungen von mystischen Kreaturen
sollen in dieser Erzählung keine Rolle spielen. Man muss sie selbst
entdecken und schätzen lernen. Wer das gerne möchte, sollte sich
beeilen, denn anscheinend ist Holz aus den Wäldern Rügens auch ein
begehrter Rohstoff, wie verteilte Baumwüsten berichten.
Meine Schritte führten mich aber zu einem bestimmten
Anlaufpunkt für viele Besucher des Waldes. Der Schwarze See ist
neben dem Finnischen Krieger und der Kreuzeiche eine der beliebtesten
Raststätten für so manchen Inselbesucher. Ich komme zu dieser
Annahme, da man die Menge der Besucher an dem herumliegenden Müll
immer gut zählen kann.
Ich nahm einen direkten Weg und mied die Pfade, die die
Wegweiser vorschlugen, denn ich kannte sie und ich wollte lieber
etwas mehr vom Wald entdecken. Ein Grinsen huschte über meine
Lippen, als Erinnerungen in meinem Kopf erwachten. Oft verlief ich
mich schon in diesem Wald, doch fand ich immer wieder einen Weg
zurück. Letztendlich schien es so, als würde ich die Umgebung
kennen wie meinen Schulweg. Daher wusste ich, dass ich mich dem See
schon näherte. Die Buchen ließen nun eine Lücke in ihren Reihen
und ich befand mich auf einer Lichtung. Ein kurzer Blick und ich sah
den Hang, den ich hinunterlaufen musste um am See zu sein. Etwas ließ
mich aber zögern.
Ein merkwürdiges Brummen erklang im Wald. Nicht etwa
das Brummen einer Maschine, sondern ein angenehmes und warmes
Brummen. Ich wagte mich nur wenige Schritte an den Hang, ehe meine
Sicht bis zum Ufer des Sees reichte. Nichts zu sehen.
Worte! Auf einmal erkannte ich Sätze in der tiefen
Melodie. Eine Melodie? Also war es ein Lied. Ich stütze mich an eine
Buche und lauschte:
„Erinnerung plagt mich seit jenem Tag,
ob ich je dies Grauen vergessen mag?
Im Schwarz versunken.
Im See ertrunken
mein Besitz, mein Heim, mein Leben ist.
Wo stolz am Ufer Buchen stehen,
wird man es wohl nie wieder sehen.
Ein Schloss versunken.
Im See ertrunken
mein Besitz, mein Heim, mein Leben ist.“
Die triste Melodie erlosch, doch das Brummen saß noch
eine Weile in meinem Kopf, als erinnerten sich meine Ohren noch an
dies eindrucksvolle Lied, das ihnen soeben geschenkt wurde. Neugier
löste mich von dem Baum und trieb mich den Hang hinunter. Teilweise
rutschte ich, weil ich nicht auf meine Schritte achtete. So kam ich
unten an, mit Laub im Haar und Flecken auf der Kleidung. Rasch
blickte ich mich um. Niemand war da. Wieso war da niemand?
Meine Augenbraue zog sich nach oben und ich konnte mir
schlecht vorstellen, dass ich mir ein Lied komplett eingebildet haben
soll.
„Hallo?“ Mein Ruf gellte durch den Wald, nur mein
Echo antwortete und ein paar Vögel flogen erschrocken weg. Ich
seufzte. Dass meine Fantasie manchmal merkwürdige Sachen ausmalte,
war mir klar, aber dass sie gleich ein Lied mit Strophen komponieren
konnte, war mir neu. Vielleicht hatte ich ja einen kleinen Dichter im
Kopf. Ein Kichern folgte meiner eigenen Bemerkung und verdrängte das
Gefühl, dass mein lauter Ansturm den Hügel hinunter vielleicht den
Sänger verscheucht haben musste.
Ich ging an der alten Eiche vorbei und auf den See zu.
Lachende Heiterkeit erfüllte mein Herz, als ich den Steg betrat und
sich mir wie immer eine außergewöhnliche Sicht darbot.
Der Sommer tanzte auf dem Wasser und hinterließ eine
glitzernde Spur als Spiegelbild der Sonne. Seerosen blühten und
wirkten elegant zu dem anthrazitfarbenen Wasser, welches den See
sogar im Namen prägte. Die schwarze Stille wurde nur ab und zu von
einem Fisch unterbrochen, der gelegentlich lustig aus dem Gewässer
sprang, als wollte er versuchen einen Sonnenstrahl einzufangen. Die
Geräuschkulisse war von Libellen und Kröten erfüllt, ein Surren
und Quaken, das die Luft in eine leichte Vibration versetzte.
Doch meine Gedanken genossen nicht lange die Natur, denn
sie kehrten zu dem sonderbaren Gesang zurück. Ein Gefühl, dass mir
das Lied vertraut vorkam, wollte mich nicht verlassen. Es war von
einem Schloss die Rede, doch ich dachte nicht an das Jagdschloss, das
stolz über die Granitz blickt, als wollte es den Wald bewachen. Mein
Blick sank, ich blickte auf das dunkle Gewässer, dann war es, als
würde ein Gedanke eintauchen und eine Erinnerung hervorholen.
„Die Sage vom Schwarzen See“, murmelte ich
nachdenklich. Auf einmal wehte ein kühler Luftzug, schlich sich
heimlich von hinten an, als wollte er meine Worte erfassen und
wegtragen. Fröstelnd rieb ich mir die Arme und wunderte mich über
den plötzlichen Temperaturwandel im Sommer. „Was war das denn?“
Ich drehte mich um und ging langsam den Steg zurück,
bis ich den Waldboden wieder unter meinen Sohlen spürte. Auf einmal
fühlte es sich so an, als würde Kälte rasch an meinen Schuhen, bis
hin zu meinen Schultern klettern, als würde sie meinen gesamten
Körper vor einer mächtigen Präsenz warnen. Überflutet von dieser
Gefühlswahrnehmung wich ich reflexartig einen Schritt zurück und
blickte mich um in der vagen Hoffnung eine Antwort zu finden. Doch es
vergingen einige Momente ohne jegliche Geschehnisse.
Da wog ich mich schon fast wieder in der Normalität,
als ein Windstoß durch den Wald jagte. Ein lautes Knarzen ertönte,
als würde ein leidendes Tier dem Wind als Jäger zur Beute werden.
Furchtbar war das Geräusch, unangenehm, schoss ein Kribbeln durch
meinen Körper. Angst begleitete das Gefühl der Verwirrung in mir.
Woher kam dieser Wind und das Knarzen, das an meinen Nerven zerrte?
Der Wind legte sich und das Knarzen verstummte. Ich
stand auf, denn ich hatte mich unbewusst hingesetzt, lag sogar
zusammengekauert am Boden. Doch bevor ich überhaupt einen Gedanken
fassen konnte, sprach man zu mir: „Was hörtest du mit?“
Meine Augen wurden groß und man hätte die Furcht in
meinem Gesicht lesen können. Die Stimme, die da zu mir sprach war
nicht menschlich. Sie war anders, unbeschreiblich. Ein jeder würde
sie vielleicht mit der Stimme eines weisen, gealterten Mannes
vergleichen, versteckten sich doch aber Spuren eines jungen
Erwachsenen in ihr. Das alles aber in einem Tonklang, den ein
Menschenohr noch nie vernommen hatte. Ich beschrieb sie im Nachhinein
immer als ein durchdringendes Brummen.
„Was hörtest du mit?“, brummte die Stimme wieder,
fast schon wütend.
Mut brachte mich nicht zum Reden, sondern Angst durch
die Forderung: „Ich verstehe nicht, was du meinst.“
„Scheinheilig, unhöflich und hält es nicht mal für
nötig mich seines Blickes zu würdigen!“
Ich befürchtete, dass ich völlig durchgedreht sein
musste. Unwillkürlich hob ich meine Hände an meinen Kopf und
schloss die Augen, fest darauf fixiert meine Gedanken zu ordnen.
„Und was macht er jetzt? Denkt er nach? Hörst du, du
sollst nicht grübeln! Was hörtest du?“, wiederholte er.
„Wer will das wissen?“, fragte ich verzweifelt.
Es war einen Moment lang still und dann hörte ich
wieder diese Stimme, doch plötzlich schien aus ihr die Wut gewichen
zu sein. Sie sprach: „Nach all der Zeit vergesse ich doch
tatsächlich noch meine Gestalt. Ich mag mich vielleicht äußerlich
gewandelt haben, doch kein Zauber dringt je durch Sinn und Gedanke.“
Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte, wollte es
nicht für wahr haben, doch verstand die Worte. Mein Blick hing an
der alten Eiche, die in der Mitte der Lichtung stand. Die Stimme
unterbrach das Schweigen wieder: „Da meine wahre Gestalt dir
offenbart ist, kümmert's nicht, was du gehört und was du nun
weißt.“
Ich ging langsam in Richtung des Baumes, bis ich zu dem
kniehohen Holzzaun kam, den man vor einer Weile hier gezogen hatte.
Nun umkreiste ich den Baum, mein Gesicht starr, die Augen die Rinde
absuchend. Wonach? Ich wusste nicht, was ich mir erhoffte, vielleicht
ein Gesicht? Als ich ihn einmal umrundet hatte, hörte ich ein
sanftes Rascheln. Die Blätter des Baumes zitterten leicht und ich
hob erstaunt die Augenbrauen.
„Wenn dein Auge mich so sähe, wie ich einst war, dann
wär' das Licht in deinem Auge ein Strahl, der junge Schönheit und
Pracht erfasst und nicht etwa ein Funken von böser Ahnung. Ich bin
kein Troll, der dich unter die Wurzeln eines Baumes ziehen will.“
Natürlich war ich noch vollkommen benommen, denn wer
erwartet schon bei einem Spaziergang durch den Wald von einer alten
Eiche angesprochen zu werden.
„Schweigen habe ich genug in diesem Wald. Buchen sind
nicht sehr gesprächig.“
„Ähm... Entschuldigen Sie!“, sprach ich zu dem
Baum, verwirrt, ob ich die Krone oder den Stamm anblicken sollte. Da
ich meinen ungewöhnlichen Gesprächspartner nicht verärgern wollte,
führte ich das Gespräch fort: „Wart Ihr derjenige, der dies Lied
sang?“
Plötzlich zuckte einer der dicken Äste, was mir einen
furchtbaren Schrecken einjagte. Doch der Baum beachtete dies nicht
und antwortete: „Ja, das war ich sehr wohl. Gefiel es dir?“
„Sehr sogar“, war meine ehrliche Erwiderung. „Wenn
Ihr erlaubt, würde ich fragen wollen, ob dies Lied eure Geschichte
verrät.“ Ich bemühte mich einer gehobenen Sprache, was mir
leichter fiel, als gedacht. Ein kurzer Seitenblick verriet mir, dass
an diesem Sommernachmittag sich wohl kein Besucher an den See wagte.
„Ach, ich merk es. In aller Munde scheint meine
Geschichte unter den Leuten hier zu sein. Ja, ich bin es. Der junge
Schlossherr, von dem die Sage zu berichten weiß. Glaub mir, Junge,
oder glaub mir nicht. Doch dort, wo jetzt das schwarze Gewässer
lauert, stand einst ein Schloss, schöner als der Frühling und
stolzer als der Winter. Ich wagte mich auf zur Jagd, vergaß meine
edlen Handschuhe, ohne die ich kein Wild erlegen vermag. Da ritt ich
zurück und fand einen See, wo einst mein Heim thronte.“ Er schwieg
und traurig knarzten ein paar Zweige.
„Nur ein Stuhl, auf dem Eure Handschuhe lagen, schwamm
auf dem Wasser.“, fuhr ich fort.
„So ist es“, ergriff die Eiche wieder das Wort. „Ich
griff die Handschuhe, ohne zu ahnen, dass nur der Stuhl mein Schloss
hätte retten können. Da versank der Stuhl und auf ewig mit ihm mein
Gefolge, Besitz und das prächtige Schloss, das ich so liebte.“
Mitleidig sah ich den Baum an und glaubte auch seinen
Blick zu spüren. Ich setzte mich auf einen Holzbalken vom Zaun und
betrachtete den Boden in einem Gedanken versunken, während der Baum
weitererzählte: „Seitdem leide ich sehr unter Verlust und meiner
Torheit. Ich ärgerte mich sogar so sehr, dass ich zu diesem Baume
wurde.“
„Das ist sehr merkwürdig. Ich verstehe nicht, wie man
sich so ärgern kann, dass man zum Baum wird.“
„Genauso wenig, wie ich verstehen kann, wie ein
Schloss in einem scheinbar herbeigezauberten See versinken kann.“
„Wie ist es so als Baum?“, fragte ich forsch.
Wieder raschelten die Blätter und ich vermutete, dass
der Baum damit ein Schmunzeln oder gar ein Lachen ausdrückt.
„Anfangs habe ich es gar nicht gemerkt. Ich wunderte mich, warum
die Buchen gar nicht mit mir sprachen, warum sie so weit fern von mir
standen. Ja, ich sah die Buchen wie andere Menschen, ein merkwürdiges
Gefühl. Ich sprach sie oft an, doch schien es mir so, als würde
meine Stimme sie nie erreichen. Später dann dachte ich sie würden
mich ignorieren, da sie so weit weg von mir standen. Ich, im
Mittelpunkt der Lichtung. Sie, gaffend mich umzingelnd. Ich
vermutete, dass sie arrogant, wie sie wirkten, sich schön mit ihrer
glatten Rinde und saftig grünen Blättern fühlten.“
Ich betrachtete die Eiche genauer. Die Rinde war von der
Natur gekerbt, wie Falten einen alten Mann zeichnen. An einigen
Stellen fiel sie schon ab und war beschädigt. Die Blätter waren
dunkel und löchrig.
„Ihr seht trotzdem sehr eindrucksvoll aus!“
„Du hättest mich als Mensch sehen sollen. Oh ja! Das
hätten sie alle. Besonders die garstigen Knaben, die immer gaffend
vor mir stehen und sagen, was für ein hässlicher Baum ich sei.
Menschen haben sich verändert.“
Plötzlich stand ich auf und sprach mit einem Anflug von
Ärger: „Was soll das heißen? Menschen haben sich verändert?“
„Zu meiner Zeit als Mensch erfuhr ich nur angenehme
Gesellschaft für die Normen noch Begriffe waren.“
Da stapfte ich zum Baum und hielt vor ihm an, ehe ich an
der Rinde hinauf sah. Unbeeindruckt von seiner Größe zischte ich:
„Das wundert mich nicht. Einem Schlossherr dient sein Gefolge
selbstverständlich. Normen sind Regeln, die böse Gefühle und
Gedanken verstecken sollen.“
Es knackte so laut, dass ich befürchtete ein Ast würde
abbrechen. Ein leichtes Zucken durchfuhr meinen Körper und löste
die Anspannung.
„Hegst du denn auch böse Gedanken? Unverschämtheit!
Du bist nicht anders als diese, die den Zaun gezogen haben.“
Ich lachte höhnisch. „Den Zaun hat man zu Eurem
Schutze gezogen. Damit niemand auf die Idee kommt, auf Euch zu
klettern und Ihnen zu schaden!“
Das lachende Rascheln und das Knacken der Äste taten
sich zusammen, als wollten sie mein höhnisches Lachen übertrumpfen.
„Da merkt man doch nur, dass ein Mensch heutzutage auf mich
heraufklettern will, um mir zu schaden.“
Es hatte keinen Sinn, denn das Gespräch würde ewig so
zugehen. Aber diese Erkenntnis hielt mich nicht auf weiter zu
diskutieren, also sprach ich trotzdem: „Ihr seid ja auch nur ein
Baum! Wieso sollte man höflich zu Ihnen sein?“
Da war er wieder, der kalte Wind, doch diesmal kam er
mir entgegen, drückte mich vom Baum weg, bis ich auf den Holzbalken
fiel. Sitzend schien es mir so, als würde sich die mächtige Krone
des Baumes über mich beugen und ich spürte einen bösen Blick. „Sag
mal, Junge! Wiederhole deine Worte, denk darüber nach! Ich stehe
hier seit über fünfhundert Jahren. Ich kriege mehr mit von der
Welt, als du zu glauben vermagst. Höre ich doch oft die Gespräche
von Leuten, die sich hier finden, um eine Konversation über die Welt
zu führen. Ich habe lange gebraucht, bis ich verstanden habe,
worüber sie sprachen, musste viel lauschen. Doch irgendwann habe
auch ich es selbst gemerkt. Die Luft ist lange nicht mehr so frisch,
wie sie damals einmal war.
Der Duft des Waldes war intensiver und erfüllte einen
mit dem Gefühl, die Natur leben zu können als ein Teil von ihr.
Doch jetzt rieche ich unbekannte Düfte und höre neben des Waldes
Stille, Klänge, von denen man sagt sie kämen von Flugzeugen.
Gar nicht erst zu sprechen von sonderbarem Papier, das
hier achtlos umhergeschleudert wird. Wie nannten sie es gleich?
Verpackungen? Ich sah einst auch welches im Wasser schwimmen. So sehr
ich diesen See auch verfluche, fand ich den Anblick widerlich, denn
er war nicht die Natur.
Und was ist das für eine gnadenlose Hitze, die ich auf
meinem Haupt, der Baumkrone da, jeden Sommer ertragen muss? Es
ängstigt mich manchmal so sehr, dass ich fürchten muss, mir brennen
all die Blätter ab. Doch auch hier fand ich Erklärung in den Worten
von Menschen.
Aber das Allerschlimmste, das mein Ohr ertragen musste,
waren Schreie. Stumme Schreie; die von Bäumen. Was waren das für
Kolosse und kreisende Zähne, die meine jetzigen Verwandten da zu
Fall brachten? Ich höre sie in vielen Wäldern, meiner all so
geliebten Insel. Auch wenn ich nur diese Lichtung erblicken kann, ich
schwöre auf mein versunkenes Schloss, man holzt zu viel der Wälder
ab. Wofür wird so viel Holz gebraucht? War ich doch nie des Krieges
Freund, weshalb ich vermute ihr baut böse Katapulte und andere
grausame Waffen wie diese Flugzeuge.
Hör her! Klimawandel, Verschmutzung, Krieg, Atomkraft;
all dies sind mir keine unbekannten Begrifflichkeiten mehr.“
Der Wind ließ nach und ich blickte den Baum verdutzt
an. Das überraschte mich sehr und ich überlegte lange. Auch das
Rascheln ließ nach und es herrschte Stille.
„Verzeih mir“, meinte der Baum. „Ich-“
„Entschuldigungen sind unangebracht. Ihr habt Recht!“
Ich schluckte. Sogar ein Baum bekam all dies mit? Wir
schwiegen einen Moment und ich lauschte. Ich hörte kein Zwitschern
und keine Kröten. Ich hörte Autos in der Ferne, die Eisenbahn von
Rügen, die durch die Granitz fuhr und noch weiter weg, ja, da hörte
ich ein Flugzeug. Da schossen mir Bilder in den Kopf von Dingen, die
der Baum erwähnte. Was richten wir Menschen für Schaden auf dieser
Welt an?
Ich stampfte mit dem Fuß auf den Boden und fluchte
leise. Bestürzt blickte ich zu Boden. „Oh, Ihr wisst ja gar nicht,
welch grausame Bilder mir in den Kopf kommen, wenn ich Eure Worte
höre. Es schmerzt mich zu sagen, dass Ihr Recht habt. Ihr mögt mir
vielleicht nicht glauben, doch ich will etwas verändern, unsere Welt
schützen, vor Menschen, die nicht achten, was die Natur uns schenkt.
Doch es ist nicht leicht. Wer würde auf mich hören?
Dazu bin ich ja selbst nie richtig bereit. So
überwältigend ein Gefühl auch für den Moment sein mag, es ist zu
wenig. Scheu ich mich vor Arbeit? Vor Verantwortung? Vor dem
Versagen?“
Ich stand auf, meine Worte wurden lauter, sie waren fast
ein Rufen, ein Schrei, an die Welt, an die Menschen, an die Menschen,
die nichts hören. „Diese Welt ist ein grauenvoller Ort, weil wir
sie zerstören! Wir alle sehen es, wir hören es und manchmal fühlen
wir es auch.“
Mein Schrei rief mir mehr Bilder in den Kopf, es war wie
eine Vision. Ich sah abgeholzte Wälder und zerstörte Lebensräume,
ich sah Krieg und Friedhöfe, ich sah wie jemand Müll auf den Boden
warf und ich sah einen verdreckten Tümpel, ich sah die Eiche auf
dieser Lichtung und ich sah die eine Wüste von Baumstümpfen, ich
sah große Versprechen und ihre Resultate. Ich sah die Zerstörung
der Welt.
Aber ich spürte plötzlich eine Hand auf meiner
Schulter, ich öffnete die Augen, die ich zusammengekniffen hatte und
sah... den Schlossherrn.
Er stand vor mir in prächtiger Kleidung, schönem
Gesicht, als hätte ein Engel diese zierlichen Züge erschaffen,
Augen, die klug und weise strahlten und eigentlich nicht zum jungen
Gesicht passten. Goldenes Haar fiel gewellt auf die Schultern, die
stark und standhaft waren. Sein Lächeln beruhigte mich, die Wut und
Trauer in mir, und vor allem eigene Vorwürfe. Unsere Augen trafen
sich und ich spürte eine tiefe Verbindung zu dem Menschen aus fernen
Zeiten.
„Ich will dich etwas lehren“, sprach er mit einer
freundlichen, wohlklingenden Stimme, „obwohl du schon fast mehr
weißt als ich. Es gibt einige Menschen da draußen, die werden so
ähnlich denken. Du bist keineswegs allein und du kannst etwas
bewegen, auch wenn du es vielleicht nicht selber stoppen kannst.
Rette, was du retten kannst! Spürst du das Gefühl? Es ist der Wille
zum Tatendrang. Konzentriere dich, halte ihn fest! Dieser Wille
ermöglicht dir, deinen Wunsch zu stillen. Den Wunsch in eine, wenn
auch nur ein wenig bessere Welt blicken zu können, mit dem Gefühl
etwas verändert zu haben. Lass dein Leben nicht an dir
vorbeigleiten! Viele Menschen tun dies, ehe sie dem Tod
entgegenblicken und ihre Träume und Wünsche mit ihnen diese Welt
verlassen. Bemühe dich, dass auch dein Wunsch diese Welt verlässt,
aber nur, weil du ihn verwirklicht hast. Ich habe Vertrauen in dich.“
„Danke!“, sprach ich und meinte es nie so ernst, wie
in diesem Moment.
„Versprich mir eines! Verliere dich nicht selbst in
den Trümmern von Niederlagen, sondern suche Hoffnung in der Sonne,
Motivation im Mondschein und Kraft im Wald. Es wird ein harter Weg,
doch ich gebe dir das Versprechen: Du wirst glücklich sein.“
Es war alles gesagt. Der Schlossherr verschwand. Das
Letzte, was ich sah, war ein Lächeln und dann umgab mich eine warme
Aura. Ich fühlte mich anders. Sicher. Entschlossen. Mutig.
Ich rannte los. Ich rannte für den Moment, denn es
fühlte sich gut an, es gab mir Kraft, verstärkte das Gefühl, als
würden Sorgen wie Lasten von mir im Lauf abfallen.
Am Ende der Lichtung blieb ich stehen und blickte über
die Schulter. Es wehte kein Wind, aber die Äste der Eiche bewegten
sich sanft, als würden sie mir zum Abschied winken. Da drehte ich
mich um, lächelte und war bereit.
___________________
_________________
___________________
Diese Geschichte war für einen Wettbewerb, zudem wir in der Schule animiert worden waren. Das Thema war "Umwelt" zu der wir einen epischen Text verfassen sollten. Da ich selber auf Rügen wohne und mir die Sage des Schwarzen Sees besonders gut gefällt, habe ich versucht dort einen gewissen Zusammenhang herzustellen.
- Der Traumpilger (13.10.2013)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen